Klaus sitzt wie fast jeden Sonntag im Gottesdienst. Heute fällt es ihm schwer, sich auf die Predigt zu konzentrieren. Er fühlt sich ausgelaugt. Seine Woche war wieder extrem anstrengend. Er hat das Gefühl, dass ihm die Dinge über den Kopf wachsen. Auf der Arbeit spürt er einen immer größeren Druck, der auch an ihn weitergegeben wird. Er denkt, dass er die Erwartungen, die sie an ihn haben, nicht mehr lange erfüllen kann. Nachts schläft er schlecht. Er hat zu nichts mehr richtig Lust, selbst ins Fitnessstudio gehen, was eines seiner größeren Hobbys war, fällt ihm schwer. Wenn er von der Arbeit kommt, legt er sich erst einmal hin und dann kann er sich einfach nicht mehr aufraffen. Er fürchtet, in einen Burnout hineinzurutschen und er hat Angst.

Drei Reihen hinter ihm sitzt Ingrid. Sie ist 70 Jahre alt. Sie tut sich schwer mit den neuen Formen im Gottesdienst. Dabei hat sie eigentlich nichts gegen neue Lieder, nur manchmal vermisst sie ihre Choräle und ihre Glaubenstraditionen. Sie kann in dem Neuen nicht so Wurzeln fassen, manches bleibt ihr einfach fremd. So fühlt sie sich in ihrer Gemeinde immer öfter heimatlos. Aber, so denkt sie, wahrscheinlich liegt das auch daran, dass sie ihren Mann so sehr vermisst, der vor 5 Jahren gestorben ist. Sie vermisst jemanden, der auf sie wartet, wenn sie vom Einkaufen nach Hause kommt oder auch jemanden, mit dem sie sich beraten kann, in ganz alltäglichen Dingen. Ob sie den Stromanbieter wechseln soll oder was sie den Enkeln zu Weihnachten schenken soll, zum Beispiel.  Die Kinder wohnen weiter weg und sie tun, was sie können. Sie rufen an, sie whatsappen und oft nehmen sie sich für ein Wochenende Zeit. Letztes Jahr waren sie sogar gemeinsam im Urlaub. Aber trotzdem sind da all die anderen langen Tage, an denen sie ihre Einsamkeit aushalten muss.

Oben auf der Empore sitzt Kathrin. Sie hat Angst um ihre Ehe. Sie haben sich voneinander entfernt, Andreas und sie. Seit die Kinder aus dem Haus sind, ist das Gleichgewicht zwischen ihnen irgendwie aus dem Lot geraten. Jetzt wäre so viel Zeit, die sie miteinander verbringen könnten, aber wo sind ihre gemeinsamen Interessen? Sie hatte sich das einfacher vorgestellt.

Die Gottesdienstleitung hat heute Lutz. Alle halten ihn für einen Vorzeigechristen und um dieses Bild aufrechtzuerhalten, gibt er sich viel Mühe. Er ist regelmäßig in seinem Hauskreis, hat für viele Menschen ein offenes Ohr und arbeitet in einem diakonischen Dienst der Gemeinde mit. Aber Lutz hat auch ein Problem. Immer wieder rastet er aus. Es kommt schlagartig über ihn. Er weiß nicht, wie das geschieht. Es ist, als würde ein Monster in ihm aufstehen. Nur seine Frau und seine Kinder wissen das, manchmal haben sie Angst vor ihm.

In der zweiten Reihe, bei den Jüngeren, sitzt Eike. Eike geht sich selbst aus dem Weg, so gut es geht. Er ist 18 und er hatte bisher keine Freundin, denn Eike mag Männer und keine Frauen. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Was er im Netz liest und in der Schule hört, überzeugt ihn nicht. Er fragt sich, wie er Leben kann als schwuler Christ und wie Gott ihn sieht. Doch mit wem soll er reden. Er hat oft gehört, wie sie im Jugendkreis Witze über Schwule machen oder in manchen Predigten – so nebenbei – hässliche Sätze fallen. Er hat keinen Mut, über sich zu reden, zu groß ist die Angst, dass er dann ein noch größeres Problem hat. Dass die anderen ihn meiden oder er seine Mitarbeit in der Jungschar, die ihm so viel bedeutet, aufgeben muss.

Sie alle sitzen an diesem Sonntag im Gottesdienst und neben ihnen andere Menschen, die alle ihr Päckchen mitgebracht haben. Nur wenige, die nicht an ihrem Leben zu knabbern haben. Nur einige, bei denen gerade wirklich alles glatt läuft. Sie alle hören dieselbe Predigt. Jesus sagt: „Ich aber bin gekommen, um ihnen Leben zu bringen – Leben in ganzer Fülle.“ (Joh 10, 10/NGÜ) Später werden sie sagen, dass die Predigt heute wieder sehr ermutigend war.

Aber ehrlich – ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis endlich einmal jemand aufspringt oder wenigstens innerlich aufschreit und protestiert. Jesus verspricht Leben in ganzer Fülle und das im Hier und Jetzt. Er verspricht wirkliche Freiheit und doch kommt so wenig davon im Leben an. Wann bemerken wir endlich diesen für viele so großen Unterschied zwischen dem, was Jesus sagt und dem, was in unserem Leben passiert? Wie kann es sein, dass Jesus uns Leben im Überfluss verspricht und wir dauernd um unser Leben kämpfen müssen? Wann wachen wir endlich auf? Wann stehen wir auf und kämpfen für uns?

Klaus, Ingrid, Kathrin, Lutz und Eike und all die anderen werden nach Hause gehen und weiterleben und weiter leiden. Sie werden vor allem weiter schweigen über sich und ihr Leben, weil sie Angst haben, nicht verstanden zu werden. Sie fürchten sich davor, ihre Schwäche zu zeigen. Sie haben schon so häufig erfahren, dass niemand ihre Andeutung ernst genommen hat.

Und Jesus – er macht vieles, aber er reißt die Mauer unseres Schweigens nicht ein. Dieses Wagnis ist unser Wagnis, dieses Abenteuer gehört dir. Jesus steht auf der anderen Seite und wartet geduldig, ohne uns zu drängen, aber hoffnungsvoll, dass wir es eines Tages schaffen werden, wenigstens einen ersten Stein zu lockern. Jesus schenkt uns sein Leben nicht innerhalb der Mauern unseres Schweigens, sondern nur, wenn wir den Mut haben, uns zu zeigen.

Ich wünsche dir Menschen, die es wert sind, dass du dich ihnen zeigst. Ich wünsche dir Menschen, die dich auf- und annehmen, wie Jesus es getan hat. Ich wünsche dir den Mut, dieses Risiko einzugehen. Zwischen dir und der Freiheit liegen nicht Welten, aber Worte.