Jeder hat seine Gründe, oder?

So zu sein, so zu denken so zu handeln.

Das zu verstehen, darin bin ich gut. Besser, als mich selbst zu verstehen.

Ich habe, seit ich Kind bin, gelernt, dass das wichtigste Prinzip des Christseins lautet: Du sollst die anderen und ihre Gründe verstehen. Sie haben ein Recht auf ihre Meinung, auch dann, wenn sie gegen mich gerichtet ist.

Wenn es zum Konflikt kommt, frage ich mich: War das meine Schuld? War ich zu deutlich? Hätte ich mehr auf die anderen eingehen sollen? Hätte ich das verhindern können?

Anzunehmen, dass es nicht meine Schuld war, dass mein Standpunkt der richtige ist und die anderen im Unrecht sind, fällt mir schwer. Es gibt keinen Platz für mich in meiner Welt.

Mein Kopf sagt mir, dass das so nicht stimmt. Dass auch ich das Recht auf meine Meinung habe, dass ich für sie eintreten darf, dass ich mich ernst nehmen darf. Mein Kopf sagt mir, dass der andere nicht das Recht hat, sich beleidigt zu verziehen, nur weil ich mal meine Meinung deutlich ausgesprochen habe. Doch mein Herz sagt etwas anderes. Gehe ihm nach, verzichte auf deine Wahrheit, relativiere dich. Alles andere scheint zu gefährlich zu sein für irgendeinen Anteil in mir, der einfach nicht kämpfen will, weil er nicht darf.

Und das macht mich wütend. Wieso dürfen alle anderen, was ich nicht darf? Wieso darf jeder Trottel seine Meinung äußern und andere verletzen, nur ich muss immer der Brave sein? Wieso sollen die Klügeren den Dummen immer die Bühne überlassen? Was wollen die Zuschauer eigentlich sehen?

Ein Gefühl steigt in mir auf, eine Wut auf mich, weil ich so feige bin und eine Wut auf die, die mich dazu gemacht haben. Die mir als Kind meinen Standpunkt verweigert haben. Eine Wut auf den, der mir weismachen will, dass ich ganz bestimmt falsch liege und er richtig. Eine Wut auf die Unsensiblen und die, die unfähig sind, sich selbst zu reflektieren.

Ein Gefühl steigt in mir auf und ich spüre, dass es mich stark machen will. Es tut mir gut, wütend zu sein, denn ich spüre Energie, die mir bisher gefehlt hat. Unter meinen Füßen ist auf einmal fester Boden, ein klarer Standpunkt. Ich sehe die Dinge nicht mehr grau in grau, sondern schwarz-weiß. Ich weiß plötzlich, was ich will und wer ich bin. Diese Klarheit tut mir gut. Sie fühlt sich richtig an – ich fühle mich richtig an.

Doch gleichzeitig bekomme ich auch Angst vor mir selbst. Muss ich jetzt nicht kämpfen? Muss ich jetzt nicht für mich einstehen? Muss ich jetzt den anderen nicht vom Platz stellen? Nein, dass muss ich nicht. Stattdessen muss der andere sich erst einmal mit mir auseinandersetzen, mich ernst nehmen und es wird sich zeigen, ob er dieses Spiel überhaupt beherrscht.

Ich will, dass meine Wut mich an die Hand nimmt und mich führt. Sie ist für mich, nicht gegen mich. Ich denke an ein Fußballspiel. Die Mannschaften laufen ein. Ein Spieler lässt sich von einem Kind auf den Platz führen. Das Kind bin ich, der Spieler ist meine Wut. Ich schaue zu ihm auf, er schaut mich freundlich an. Er wird mit mir spielen, mir zeigen, wie es geht. Er ist für mich, nicht gegen mich. Während ich aufschaue und meine Wut mich freundlich, aber bestimmt anschaut, fühle ich, wie ich stark werde. Ich bin nicht alleine auf dem Feld. Ein Pfiff, ein Ball, das Spiel hat begonnen.